Dis/ability History
Neue Perspektiven für die Lehramtsausbildung.
Auf dem Weg zur Inklusion: Dis/ability als Forschungskategorie, Unterrichtsthema und Motor gesellschaftlicher Transformation.
2009 verpflichtete Deutschland sich mit der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) dazu, unsere Gesellschaft so umzuformen, dass behinderte und nichtbehinderte Menschen gleiche Rechte und Chancen haben. Seither wird auch mit Nachdruck daran gearbeitet, das Schulsystem im Sinne inklusiver Bildung umzugestalten. Auch die Hochschulen bemühen sich, die Grundsätze von Inklusion und Diversität zu realisieren. Das Land Bremen sieht sich bildungspolitisch in der Vorreiterrolle.
Diese gesellschafts- und bildungspolitischen Anstrengungen laufen parallel zur Etablierung der Dis/ability Studies und Dis/ability History, zweier Ansätze anglo-amerikanischer Provenienz, im deutschen Wissenschaftssystem. Die internationalen Dis/ability Studies resp. Dis/ability History setzen sich in Bezug auf die Vergangenheit und die Gegenwart mit dem Phänomen „Behinderung" auseinander: Was bedeutet „Behinderung" eigentlich, das heißt wie wird diese Kategorie konstruiert und welche Prozesse von Marginalisierung, Stigmatisierung, Exklusion und Inklusion verbinden sich damit?
Seitens der Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen wird seit einigen Jahren Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Dis/ability History betrieben. Nach dreijährigen Sondierungen im Rahmen eines DFG-geförderten interdisziplinären „Pakets" (2009-2012) konstituierte sich 2013 die fächerübergreifende Creative Unit „Homo debilis. Dis/ability in der Vormoderne" (finanziert aus Mitteln der Exzellenzinitiative) und begann als Teil eines internationalen Netzes von Mitgliedern und Kooperationspartnern, Bremen zu einem Zentrum der einschlägigen Forschung, aber auch der Lehre aufzubauen.
Der Geschichtsunterricht sowie andere sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächer bieten unserer Ansicht nach die Möglichkeit, praktizierte Inklusion mit der inhaltlichen Behandlung von entsprechenden Themen zu verbinden. So können die Vorstellungen und Verhaltensweisen vergangener und heutiger Gesellschaften angesichts von „dis/ability" beleuchtet und die Umstände offengelegt werden, unter denen Menschen als „anders", „abweichend" oder „besonders" betrachtet, an den Rand der Gesellschaft gedrängt oder in ihrer Mitte beteiligt wurden und werden. Es besteht die Chance, „inklusiven Geschichtsunterricht" im doppelten Sinn zu gestalten, nämlich hinsichtlich der Lernumgebung und hinsichtlich des Lerngegenstandes.
Projektidee
Unser Projekt zielt darauf, ein Lehrkonzept zu entwickeln, umzusetzen und zu evaluieren das erstmals dis/ability als historische und gesellschaftliche Analysekategorie im zeitlichen Längsschnitt, in verschiedenen Räumen sowie interkulturell in den Blick nimmt und als Unterrichtsthema für heterogene Lerngruppen erarbeitet. Dabei stehen im beantragten Pilotprojekt der Studiengang und das Schulfach Geschichte im Zentrum. Allerdings eröffnet sich mit dis/ability eine Querschnittsdisziplin oder -perspektive, die nicht in einzelne, wenige Fächer ausgelagert werden sollte, sondern die an der Universität wie an den Schulen eine Fächerbrücke darstellt. Eine spätere Übertragung des Lehrkonzeptes in andere geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer ist angedacht.
In der Geschichtsdidaktik spielt die Kategorie dis/ability thematisch – anders als gender, race, ethnicity – nach wie vor keine nennenswerte Rolle. Dabei ist die Forderung seitens der Geschichtswissenschaft eindeutig: „Like gender, like race, disability must become a standard analytical tool in the historian's tool chest." Erste Ansätze nehmen Dis/ability History zwar als Lerngegenstand wahr und konstatieren hier, mit dem expliziten Verweis auf die Forschungserträge des Homo debilis-Projekts an der Universität Bremen, ein Desiderat in der didaktischen Diskussion. Auch die Möglichkeit, dass dis/ability erstens in allen Lerngruppen ein thematischer Gegenstand sein könnte (und sollte) und als solcher zweitens gemeinsame Lernstrukturen in idealer Weise mit Inhalt füllt, wurde bislang in der geschichtsdidaktischen Disziplin kaum diskutiert. Die bildungspolitischen Vorgaben im Land Bremen geben eindeutig vor, dass es um ein „Miteinander im gemeinsamen Lernen und Leben am allgemeinen Ort Schule" gehen soll. Gemeinsames Lernen kann aber nur gelingen, wenn auch die Lerngegenstände eine gemeinsame Relevanz haben. Die gemeinsame Anerkennung der Normalität von Diversität, die auch dis/ability umschließt, hat eine bedeutende Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung aller Schüler*innen. Die Veränderbarkeit der Konstruktion von Norm und Normabweichung kann durch die reflektierende Thematisierung von dis/ability in historischer Perspektive bewusst gemacht werden.
Diese Prozesse sollen durch das im Projekt entwickelte Lehrkonzept angeregt sowie in ihrer Entwicklung durch die begleitende Erhebung der Studierendenperspektive genauer in den Blick genommen werden.
Zu den studentischen Ergebnissen siehe hier: https://blogs.uni-bremen.de/disabilityhistorylehrlerngegenstand/
Projektverantwortliche:
Dr. Sabine Horn, FB8, Institut für Geschichtswissenschaft, Didaktik der Geschichte
Prof. Dr. Natascha Korff, FB 12, Inklusive Pädagogik
Prof. Dr. Cordula Nolte, FB 8, Institut für Geschichtswissenschaft, Mittelalter